"Niemandsstadt" von Tobias Goldfarb

©Thienemann Verlag

Tobias Goldfarb wird für seinen Roman »Niemandsstadt« (Thienemann Verlag, Stuttgart) mit dem 19. Rattenfänger-Literaturpreis der Stadt Hameln ausgezeichnet. Virtuos hat er eine sprachlich und formal experimentierfreudige Urban Fantasy gewoben, in der er Welten kollidieren lässt. Sein Jugendromandebüt reiht sich selbstbewusst bei den Größen des Genres ein und zugleich gelingt es Goldfarb sich jeglicher Kategorisierung zu entziehen. Mit stilistischer Brillanz, die von ihrer Kantigkeit und Brüchigkeit lebt, schöpft er aus der ganzen Bandbreite menschlicher Gefühle und erzählt sensibel vom Erwachsenwerden. Kurzum: Ein Buch, das mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Realität steht und den Kopf genauso selbstbewusst in die Wolken reckt, ein Buch, das Jugendliche wie Erwachsene, Literaturkenner wie Seltenleser zum Träumen bringt, so die einstimmige Juryentscheidung.

Mit der Aufnahme in die Empfehlungsliste zum 19. Rattenfänger-Literaturpreis hat die Jury zwölf weitere hervorzuhebende Kinder- und Jugendbücher ideell ausgezeichnet.

Seit 1984 vergibt die Stadt Hameln alle zwei Jahre für herausragende Märchen- und Sagenbücher, fantastische Erzählungen, moderne Kunstmärchen oder Erzählungen aus dem Mittelalter für Kinder und Jugendliche den Rattenfänger-Literaturpreis. Für den mit 5.000 € dotierten Preis wurden 225 Bücher eingereicht, die im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2020 und 31. Dezember 2021 erschienen sind.

Der Preis wurde am 7. Oktober 2022 im Theater Hameln verliehen. Im Rahmen des offiziellen Festaktes wurden sowohl Tobias Goldfarb als auch der 18. Rattenfänger-Literaturpreisträger, John Hare aus den USA, für sein Buch „Ausflug zum Mond“ (Moritz Verlag, Frankfurt/Main) geehrt, da die Preisverleihung 2020 pandemiebedingt ausfiel.

Begründung der Jury

Der 19. Rattenfänger-Literaturpreis geht an »Niemandsstadt«, einen Jugendroman, der Welten kollidieren lässt. Technik und Magie, Nostalgie und Futurismus, Traum und Realität, Sein und Schein, Tiefgang und Oberflächlichkeit – aus diesen Gegensatzpaaren hat Tobias Goldfarb virtuos eine sprachlich und formal experimentierfreudige Urban Fantasy gewoben, die sensibel vom Erwachsenwerden erzählt und sich gleichzeitig selbstbewusst bei den Größen des Genres einreiht.

»Manchmal weiß ich nicht genau, ob ich gerade drüben bin.« Mit diesem ersten Satz des Romans stellt sich die fünfzehnjährige Josefine, eine der beiden Protagonistinnen von »Niemandsstadt« vor: Sie kann zwischen dem uns vertrauten Berlin der Gegenwart und der titelgebenden magischen Parallelwelt wechseln. Dort umkreisen Drachen den Fernsehturm, bevölkern Vampire und Dämonen die Straßenschluchten – nur in der U-Bahn ist sie sich manchmal nicht sicher, ob der Typ im Sitz gegenüber zur Piercingmesse will oder doch einfach ein Dämon ist. Josefine nimmt diese Gabe recht gelassen hin, denn sie hat in ihrem Leben wahrlich größere Probleme: Introvertiert und intelligent, aber in ihrer körperlichen Entwicklung eher Spätzünderin, ist sie die Zielscheibe von Spott und Häme ihrer Mitschüler*innen, im Klassenzimmer wie in den sozialen Medien. Auch von ihren als Bohemiens scheiternden Eltern entfremdet sie sich zunehmend. So sitzt sie zwischen allen Stühlen und kann sich eigentlich nur ihrer besten Freundin Eli anvertrauen, die zwischen zwei ganz anderen Welten gefangen ist: Nach außen und online inszeniert sie sich souverän als selbstbewusstes und mondänes Glamourgirl, nur gegenüber Josefine (und den Leser*innen) wird deutlich, dass das eine Strategie ist, aus ihrer realen Unterprivilegiertheit zu entrinnen – und wie sehr das feinfühlige Mädchen im Grunde darunter leidet.

Die Freundschaft dieses ungleichen Paares, das anfangs nur die Zerrissenheit eint, wird auf eine harte Probe gestellt, als ein undurchsichtiger IT-Mogul die Szene betritt, der augenscheinlich nur ein hippes neues Netzwerk promoten will, dessen sinistrer Einfluss sich jedoch bis ins Parallel-Berlin zu erstrecken scheint. Bald überschlagen sich die Ereignisse: Josefine fällt in unserer Welt in ein Koma, während ihr Geist in der anderen Sphäre unterwegs ist. Eli muss einen Weg nach Drüben finden, um dort ihre Freundin zu finden und mit ihr die Welten zu retten – dabei ist nicht jeder, der ihnen auf ihren Abenteuern begegnet, wer er zu sein scheint …

»Niemandsstadt« ist ein Roman, der sich, gleich seinen Protagonistinnen, einer einfachen Kategorisierung entzieht:

Er hat eine schwebend verträumte Grundstimmung und entwickelt doch rasante Spannung.

Er schildert realistisch vielschichtige und grundsympathische Protagonisten und hantiert genüsslich und geschickt mit Stereotypen.

Er hat eine stilistische Brillanz, die von ihrer Kantigkeit und Brüchigkeit lebt.

Er schöpft aus der ganzen Bandbreite menschlicher Gefühle, zeigt Mut zum Pathos, ist sich aber auch für manch hinreißende Albernheit nicht zu schade.

Er ist ein buntschillernder Strauß an Intertextualität, und gerät doch nie in die Nähe der Pastiche. Neil Gaiman, Astrid Lindgren, Lewis Carroll, aber auch William Shakespeare, James Joyce und Jorge Luis Borges: Von deren roten Fäden ist Tobias Goldfarbs Roman durchwoben – und doch ein ganz eigenständiges Gesamtkunstwerk.

Kurzum: »Niemandsstadt« ist ein Buch, das mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Realität steht und den Kopf genauso selbstbewusst in die Wolken reckt, ein Buch, das Jugendliche wie Erwachsene, Literaturkenner wie Seltenleser zum Träumen bringt. Die Jury möchte mit ihrem einstimmigen Votum für »Niemandsstadt« dazu beitragen, dass sich noch viel mehr Leser*innen von diesem großartigen Roman dazu verleiten lassen werden, mit Josefine und Eli sich selbst neu zu finden.

© Johanna Ruebel
© Johanna Ruebel

Tobias Goldfarb

hat Internationalen Journalismus in London studiert und als Journalist und Hörspielautor unter anderem für den WDR und das Deutschlandradio gearbeitet. Als Autor und Regisseur hat er Theaterstücke für zahlreiche Bühnen verfasst und inszeniert. Auf der Jagd nach neuen Geschichten wandert er gerne durch die schottischen Highlands, die Brandenburger Lowlands und andere Gegenden mit möglichst weiten und spektakulären Himmeln. Tobias Goldfarb lebt mit seiner Familie in Berlin. »Niemandsstadt« ist sein erster Roman für Jugendliche. 

 

Empfehlungsliste des 19. Rattenfänger-Literaturpreises

Ideell ausgezeichnet:  
Natasha Farrant, Lydia Corry
Von acht Prinzessinnen, die keinen Retter brauchen
mvg Verlag, 2020
Ann Cathrin Raab
Grünkäppchen und der böse Elefant
Kunstanstifter Verlag, 2021
Wieland Freund, Sabine Mielke
Dreimal schwarzer Kater.
Krispin und der mächtigste Zauber der Welt
Beltz & Gelberg, 2020
Daan Remmerts de Vries, Floor Rieder
Der Zyklop
Gerstenberg Verlag, 2020
Christian Handel
Rowan & Ash
Ueberreuter Verlag, 2020
Neal Shusterman
Game Changer
Fischer Sauerländer, 2021
Frances Hardinge
Schattengeister
Verlag Freies Geistesleben, 2020
Lilli Thal
Tier aus Stein, Tier aus Gold
Gerstenberg Verlag, 2021
Ulrich Hub, Jörg Mühle
Lahme Ente, blindes Huhn
Carlsen Verlag, 2021
Dominique Valente
Der Zauber von Immerda
Fischer Sauerländer, 2020
Markus Orths, Lena Winkel
Luftpiraten
Ueberreuter Verlag, 2020
ZO-O
Die Ecke
Verlag Urachhaus, 2021
Jurymitglieder 2022  
Dr. Johannes Rüster Juryvorsitzender, Lehrer und Literaturwissenschaftler, Nürnberg
Natalie Borsy M.A. Kulturwissenschaftlerin, Zürich
Dr. Felix Giesa Literaturwissenschaftler, Aachen
Doris Hedemann Dipl.-Bibliothekarin, Hameln
Wiebke Schleser Buchhändlerin, Berlin
Bernhard Schmitz Bilderbuchmuseum, Troisdorf
Doris Schneider Lehrerin, Hameln